Stichwort: Bombennacht

Wir kommen um uns zu beschweren

Am 8.03.2013 erschien im Mülheimer Lokalteil der WAZ der Artikel “Stadt und WAZ suchen Zeitzeugen der Bombennacht vom 23.6.1943″. Im Weiteren beziehen wir uns auf diesen Artikel und möchten ihn um wichtige Details ergänzen.

Zunächst werden wir die Geschichte des Nationalsozialismus in Mülheim kurz zusammenfassen, um zu zeigen, dass die vermeintlich „größte Katastrophe der Mülheimer Geschichte“ nicht aus heiterem Himmel geschehen ist. Eine vollständige Aufstellung der Gräueltaten der Deutschen, allein in Mülheim, würde den Rahmen einer solchen Intervention allerdings bei Weitem sprengen.

Bereits am 7. März 1931 führte die Sturmabteilung (SA) der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ein einwöchiges Boykott jüdischer Geschäfte durch; dies gipfelte am 1. April mit dem Ausschluss von Jüd_innen aus Sport- und Schachvereinen sowie mit dem Ausschluss jüdischer Ärzt_innen aus der lokalen Ärztekammer. Parallel dazu geschahen nächtliche Überfälle auf jüdische Bürger_innen. In der Lokalausgabe des Parteipropagandaorgans „Der Stürmer“ vom 2.7.1933 wird im Artikel „An den Pranger“ die Beziehung zwischen einer Nicht-Jüdin und einem Juden öffentlich skandalisiert.
In Folge dieser und vieler anderer Vorkommnisse kam es zwischen 1933 und 1934 zur ersten Auswanderungswelle vor allem junger jüdischer Bürger_innen. Deren Eigentum wurde, unter „rechtlicher Legitimierung“ durch das Reichsfluchtsteuergesetz vom 8. Dezember 1931, per Notverordnung durch den Reichspräsidenten von Hindenburg – unter Umgehung des Parlamentes erlassen und durch die Nazis später verschärft – vom Staat eingezogen.

1936 fanden in Mülheim erste Zwangsverkäufe jüdischer Wohnhäuser weit unter deren Marktwert statt. Die Bewohner_innen dieser Häuser sind in sogenannten Judenhäusern ghettoisiert worden. Das Vermögen der Betroffenen wurde, inklusive der Erlösen aus den Zwangsverkäufen, ebenfalls beschlagnahmt. Einige der sog. Judenhäuser standen z.B. in der Löhstraße, der Duisburger Straße und der Auerstraße.
Am 5. Oktober 1938 kaufte die Stadt Mülheim über die Stadtsparkasse Grundstück und Gebäude der Jüdischen Synagoge am Viktoriaplatz für einen Spottpreis auf. Am 9. November 1938 fand eine Festveranstaltung der Mülheimer NSDAP in der Stadthalle unter dem Titel „Ihr seid der Erhebung Fanfare“ statt. Parallel dazu befand sich der damalige Branddirektor der Stadt Mülheim, Alfred Freter, welcher ebenfalls SS- Sturmbannführer war, auf einer Veranstaltung der SS in Essen und verließ diese, als er den Befehl erhielt die Mülheimer Synagoge in Brand zu setzten. Sowohl die Berufs-, als auch die Freiwillige Feuerwehr rückten zum Einsatz aus, allerdings mit dem Befehl, nur die benachbarten Häuser vor dem Brand zu schützen.

In der gleichen Nacht kam es zum Pogrom durch die Mülheimer SA, wobei ein jüdischer Mensch totgeschlagen sowie 60 weitere Jüd_innen festgenommen und ins Mülheimer Stadtgefängnis eingeliefert wurden. Die 60 Festgenommen wurden wenige Tage später nach Buchenwald und Dachau deportiert oder in Nachbarländer wie z.B. Luxemburg ausgewiesen. Dort kam es ebenfalls zu Deportationen. Neben regelmäßigen Einzeldeportationen gab es von 1941 – 1942 drei große Transporte aus Mülheim nach Auschwitz und Theresienstadt.

Insgesamt wurden in Mülheim selbst, zwischen 1933 und 1942, 45 Mitglieder der jüdischen Gemeinde ermordet, 215 aus Mülheim stammende Jüd_innen starben in KZs oder auf der Flucht. Nichtgemeindemitglieder sind leider nicht erfasst. Nur 15 Jüd_innen aus Mülheim haben die Lager überlebt und 300 ist die Flucht gelungen.
Nicht nur Jüd_innen waren Betroffene der barbarischen Gewalt der Deutschen, sondern auch vermeintliche politische Gegner_innen sowie Künstler_innen.
Am 7.6.1933 wurden die SPD-Abgeordneten Müller, Witthaus und Thöne in “Schutzhaft” genommen. Parallel dazu wurden der SPD die Stadtverordnetenmandate entzogen, die Stadtverordnetenversammlung aufgelöst und vollständig durch Nationalsozialistische Ratsherren ersetzt. Sozialdemokrat_innen und Gewerkschafter_innen wurden systematisch aus ihren Arbeitsstellen, auch im städtischen Dienst, gedrängt und entlassen. Dies geschah aufgrund des Gesetztes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, welches am 7.4. 1933 verabschiedet wurde. Mehrere Mülheimer Sozialdemokrat_innen sind drei Jahre später im Rahmen der Zerschlagung eines illegalen sozialdemokratischen Widerstandszirkels zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt worden. Im späteren Verlauf wurden im Jahr 1944 ehemalige Stadtverordnete ins Konzentrationslager Hamburg-Neuengamme deportiert.

Schon am 3. Februar 1933, einen Tag vor dem reichsweitem Verbot, untersagte Friedrich Karl Niederhoff, der Polizeipräsident der Stadt Mülheim, öffentliche Versammlungen und Umzüge der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). In den folgenden Wochen häuften sich bewaffnete Übergriffe der SA auf Zeitungsorgane und Redakteur_innen der KPD. Schließlich wurde am 22. Februar durch Reichskanzler Hermann Göring der Schießbefehl erlassen und das Hinzuziehen der SA zur Hilfspolizei befohlen. In Folge dieses Befehls zogen 200 mit Knüppeln und Schusswaffen ausgerüstete Mitglieder des SS, der SA und des Stahlhelms prügelnd durch Mülheim und inhaftierten innerhalb von 48 Stunden über 100 Mitglieder der Kommunistischen Partei. Am 4. April 1933 wurden die gewählten Betriebsvertretungen aufgelöst und „nicht national eingestellte Betriebsangehörige “ durch NS-Gewerkschafter_innen ersetzt.

Auch kulturelle Arbeiter_innenvereine wie z.B. Turnvereine oder der Mülheimer Volkschor wurden durch die Repression des NS unmöglich gemacht.
Auch kunst- und kulturschaffende Menschen aus Mülheim und der Umgebung wie z.B. Otto Pankok, Juli Levin, Hermann Haber, Karl Schwesig, Franz Monjau, P. Ludwigs und Karl Lauterbach hatten unter dem NS zu leiden. Zum einen wurden ihre Werke als sog. „Entartete Kunst“ aus dem Mülheimer Museen entfernt und verbrannt, zum anderen mussten sie mit Repressionen wie Hausdurchsuchungen und Überwachung durch die Polizei leben. Gegen Künstler_innen wurden auch Haftstrafen ausgesprochen bzw. Deportationen durchgeführt.

Vom Profit durch Zwangsarbeit kann sich die Stadt Mülheim ebenfalls nicht freisprechen. Insgesamt gab es im Mülheimer Stadtgebiet weit über 1200 Zwangsarbeiter_innen und Kriegsgefangene – vor allem aus Osteuropa – in 55 Lagern. Diese arbeiteten in lokalen Pelz- und Lederfabriken, Werken von Krupp, der Deutschen Reichsbahn sowie den Zechen in der Stadt und den Nachbarstädten. Auch zur Beseitigung der Bombenschäden wurden vor allem Zwangsarbeiter_innen eingesetzt.
Auch darf nicht vergessen werden, dass die Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches, 1943, wenige Monate nach der Niederlage in Stalingrad, immer noch auf Hochtouren lief. Seit dem Überfall auf Polen 1939 wurden unzählige Landesgrenzen in nationalsozialistischer Aggression überschritten. Dörfer und Städte waren zerstört und unzählige Menschen gefoltert, hingerichtet und deportiert worden. Obwohl deutsche Truppen den Ärmelkanal nie überschritten, war die Englische Zivilbevölkerung zwischen 1940 und 1941 wiederholten Bombardements der deutschen Luftwaffe ausgesetzt.

Mülheim war keineswegs unwichtig für die deutsche Kriegsführung: der Rhein-Ruhr Flughafen, der heutige Flughafen Essen- Mülheim, war der damals größte Flughafen in NRW. Ab 1939 wurde das damalige Jagdgeschwader „Schlageter“ (benannt nach Albert Leo Schlageter) am Flughafen stationiert. Die Mannesmann Röhrenwerke haben damals sog. kriegswichtige Güter produziert. Die Friedrich-Wilhelm-Hütte produzierte Stahl. Selbstverständlich hatte Mülheim als Stadt auch Kohlezechen. Kohle war damals eine wichtige Ressource für die Wirtschaft und somit auch für den Krieg, sei es in Form von Treibstoff, als auch in Form von Antrieb für die Güterproduktion.
Nahezu in Vergessenheit geraten ist die Vergangenheit Mülheims als Garnisonsstadt. Die Kaserne des früheren Infanterie Regiments 159 der preußischen Armee war an der Kaiserstr. auf dem Gelände zu finden, auf dem heute ein Supermarkt, die Agentur für Arbeit, Südbad, Rhein-Ruhr-Sporthalle zu finden sind. Die Kaserne lag somit quasi mitten in der Stadt und beherbergte in den Zeiten nach dem 1. Weltkrieg das berüchtigte Freikorps Schulz, welches sich am Kapp-Putsch beteiligte und den Ruhraufstand mit niederschlug. Die Kasernen in Holthausen am Steinknappen, die späteren „Wrexham Barracks“, wurden in den 1930ern explizit für die Wehrmacht errichtet.

Wenn man nun all diese Grausamkeiten und die weltweiten Kriegsbemühungen der Deutschen zusammennimmt, fällt es einerseits schwer zu glauben, dass die Mülheimer_innen von all den alltäglichen Katastrophen nichts mitbekommen haben sollen, und andererseits ist es geschichtsvergessen im Zuge des Bombardements eines nationalsozialistischen Industrie- und Kriegsumschlagplatzes wie Mülheim von der „größten Katastrophe seiner Geschichte“ zu sprechen.
Von einem deutschlandweit gelesenen Blatt wie der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung hätten wir einen besseren, vielseitigeren und ausführlicheren Artikel, als den genannten erwartet. In einer Zeit in der einerseits die meisten Jugendlichen mit dem Begriff Auschwitz schon nichts mehr anfangen können und andererseits das Holocaust Memorial in den USA eine Studie veröffentlicht, nach der von 42.500 Lagern europaweit ausgegangen werden muss, ist es wichtiger denn je die deutsche Geschichte bewusst zu halten.

Mit einer Gedenkveranstaltung zur Bombardierung Mülheims, wird das genaue Gegenteil, nämlich ein weiteres Vergessen und Verdrängen der Geschichte hochgehalten. Aus Geschichte zu lernen muss bedeuten, gerade Schüler_innen ein vollständiges Bild zu vermitteln und nicht Opfermythen aufrechtzuerhalten, indem man das Bombardement frei von Kontext darstellt und betrauert. Dieser Opfermythos wurde bereits wiederholt, auch im Kontext des jährlichen Neonaziaufmarsches in Dresden, als solcher entlarvt. Eine Legendenbildung wie die vom unschuldigen Mülheim sorgt für eine Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses und für eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit zu Neonazis. Uns geht es nicht um eine „Verbesserung“ des Vorhabens der Stadt, sondern darum, dieses als Ganzes abzulehnen. Die Basis für eine auch nur im Ansatz sinnvolle und ausgeglichene Veranstaltung ist alleine mit dieser Veröffentlichung bereits entzogen worden.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“
Theodor W. Adorno – Erziehung nach Auschwitz

Gruppe „Gewisser Überdruss“